Liebe Angehörige der weitverzweigten Familie Grimm, liebe Gemeinde,
wir haben soeben im Evangelium (Mk 8,27-35) von einem Konflikt gehört zwischen Jesus und seinem Freund Simon Petrus. Der Evangelist zitiert Jesus mit dem sehr harschen Wort: „Weg von mir, Satan!“ – Diese Szene erinnert mich am heutigen Tag an einen ganz ähnlich gelagerten Konflikt zwischen Alois Grimm und wohlmeinenden Mitbrüdern oder auch Gottesdienstbesuchern. Es ist bekannt, dass Pater Grimm von verschiedener Seite gewarnt wurde, insbesondere im Jahr 1943, in denen er in der Hauptkirche von Feldkirch sehr engagierte Fastenpredigten hielt. Wir können uns vorstellen, wie Menschen sich ganz wie Simon Petrus Sorgen machten und vielleicht sagten:
„Pater Grimm, bringen Sie sich nicht in Gefahr. Sie können doch nichts ausrichten. Die Gestapo steht schon bereit. Die werden Sie umbringen!“
Und von Alois Grimm wird berichtet, er habe auf solche Warnungen geantwortet: „Alles, was ich sage, kann ich belegen!“[1]
Wie sein Meister unterschied er ganz offensichtlich zwischen dem, was Menschen wollten und dem, was er als die Wahrheit erkannte und was er zu predigen seine Pflicht sah.
Das ist es, was mich an Alois Grimm fasziniert. Er war nicht einfach naiv. Er wusste, dass er auf einen Konflikt zusteuerte, der für ihn tödlich ausgehen konnte. Aber ganz wie sein Meister ließ er sich davon nicht abbringen. Es war seine Mission, den Unterschied zu markieren zwischen dem Machtanspruch des totalitären Nazi-Regimes und dem eigentlichen Herrn, dem allein zu dienen sich lohnt.
Und das war natürlich lebensgefährlich. Denn Adolf Hitler wollte bekanntlich keine Götter neben sich haben.
Die große Frage ist, wieso so viele Deutsche mit „Hurra“ diesen Hitler haben wollten, wieso sie ihm nachliefen und im Namen des Deutschen Volks ungeheuerliche Verbrechen zu verüben bereit waren.
Und für uns heute die noch drängendere Frage: Was können wir tun, senn in unserem Land heute offenbar ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft eine Partei wählt, die nicht nur den Nationalsozialismus verharmlost, sondern sich ganz offenkundig derselben Parolen und völkischen Propaganda bedient, die die NSDAP einst an die Macht gebracht haben.
Ich habe dazu drei Punkte, die ich im Folgenden entfalten möchte:
Mein erster Punkt geht um die populistische Argumentationslogik, die heute wie damals offensichtlich viele Menschen in den Bann schlug: eine Logik des Misstrauens, die geeignet ist, Ohnmacht und Unzufriedenheit in Wut und Gewaltbereitschaft zu verwandeln.
Mein zweiter Punkt versucht eine Antwort zu geben auf die Frage, wie wir uns angesichts so einer populistischen Argumentationslogik verhalten können.
Und in meinem dritten Punkt möchte ich darlegen, warum wir Grund zur Zuversicht haben dürfen.
Ich beginne also mit dem ersten Punkt, der Argumentationslogik der Populisten damals und heute:
Ein sehr altes Mittel, Macht über die Herzen von Menschen zu gewinnen, besteht darin, sie in ihren Nöten und in ihrer Ohnmacht abzuholen.
Der Versucher kommt in der Wüste. Das kennen wir auch aus dem Evangelium. Wenn ein Mensch Hunger und Durst hat, dann ist er leichter versuchbar. Wenn man diesen Menschen dann davon überzeugt, dass hinter seinem Hunger und Durst ungerechte, ja bösartige Machenschaften stecken, dann wird dieser Mensch verständlicherweise wütend und – sehr oft – auch gewaltbereit.
Menschen, die so eine Dynamik schüren wollen, halten es üblicherweise nicht so genau mit der Wahrheit. Verkürzte und verfälschte Nachrichten – neudeutsch „fake news“ gehören genauso zu dieser Logik wie „Verschwörungserzählungen“.
Sehr einflussreich in den 20er-Jahre war die so genannte „Dolchstoßlegende“, nach der die kaiserlichen Soldaten im Ersten Weltkrieg „im Feld unbesiegt“ aber von den kommunistischen Revolutionären hinterrücks kampfunfähig gemacht worden seien. An diese Legende knüpften die Nazis nahtlos eine internationale jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, sprich: von Moskau bis Washington sind alle Regierungen jüdisch-bolschewistisch unterwandert und bedrohten die Deutsche Nation.
Heute ist ist die so genannte „Islamisierung des Abendlandes“ eine wirkmächtige Verschwörungserzählung. Sie brachte schon vor Jahren Montag für Montag tausende PEgIdA-Demonstranten auf die Straßen: PEgIdA - das ist die Selbstbezeichnung „Patriotischer Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“.
Erweitert aber nicht abgelöst wurden diese Erzählungen in den letzten Jahren von verschiedenen Corona-Verschwörungen.
Die umworbene Wählerschaft wird mit diesen Horrorszenarien aufgerufen, sich endlich gegen die drohende Gefahr zur Wehr zu setzen.
„Deutsche wehrt Euch!“ malten SA-Soldaten an die Schaufenster jüdischer Geschäfte. Und auch heute sollen sich die Deutschen wehren: gegen Migranten, gegen Flüchtlinge, gegen Juden und nicht zuletzt gegen Politiker, die mit all diesen gefährlichen Gruppen unter einer Decke stecken: Bill Gates, die Europäische Kommission, die aktuelle Regierung oder das Robert-Koch-Institut.
Keinem Politiker der etablierten Parteien kann man trauen. Das ist die Kernbotschaft. Und deshalb ist es Zeit, sich selbst zu verteidigen – so die populistische Propaganda.
Mit der Behauptung einer Notwehrsituation werden dabei systematisch Tabus der politischen Kultur untergraben. Pauschalierte Schuldzuweisung und gewaltsame Sprache werden wohldosiert in den politischen Diskurs eingestreut. Wird dies kritisiert oder verurteilt, kommt prompt die Verkehrung von Täter und Opfer:
„Das muss man doch sagen dürfen …“
„Wir (Opfer) lassen uns nicht mehr das Wort verbieten …“
„Wir haben es satt und lassen uns nicht mehr alles gefallen …“
In den sozialen Netzwerken kann man beobachten, wie dann politische Ereignisse mit wütender Polemik und unverhohlenen Gewaltdrohungen kommentiert werden.
Nach dem Motto: „Wenn uns der Staat nicht verteidigt, dann verteidigen wir uns eben selbst …“
Die Zahl politisch motivierter Gewalttaten stieg in den letzten Jahren entsprechend stark an. Die Umsturzpläne von so genannten „Reichsbürgern“ um Heinrich Reuß sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.
Natürlich gilt die Bereitschaft zu verbaler oder tätiger Gewalt nicht nur für die „völkische Szene“. Auch linker Populismus pflegt eine Sprache der Gewalt und legitimiert Gewalt. Dasselbe gilt für Islamisten.
Aber weder Linke noch Islamisten haben beim Wahlvolk so viel Resonanz wie die Rechtspopulisten. Und die große Masse politisch motivierter Straf- und Gewalttaten geht in unserem Land von Rechtsextremisten aus.
Alois Grimm hat in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts miterlebt, wie die national-völkische Notwehrideologie der Nazis zur Staatsdoktrin wurde. Und er hat miterlebt, wie es den Nazis gelang, binnen kurzer Zeit die Weimarer Republik in einen totalitären Polizeistaat zu verwandelten. Wäre das abzuwenden gewesen?
Ich komme zu meinem zweiten Punkt: Was kann man tun angesichts einer derartigen Radikalisierung. Viele Historiker sagen, dass eine rechtzeitige Abgrenzung möglich gewesen wäre, dass aber die Christen in den 20er-Jahren nicht einig und nicht entschlossen genug waren. Wie auch heute, gab es in den Reihen der Christen nicht wenige Menschen, die der völkischen Propaganda auf den Leim gingen. Außerdem hofften viele Bischöfe, das im Sommer 1933 zustande gekommene Reichskonkordat könnte zumindest für die Kirche das Schlimmste verhindern.
Dieser Fehler soll sich nicht wiederholen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat im Februar diesen Jahres sich klar gegen AfD und ihre nationalistische Propaganda positioniert.[2]
Aber Abgrenzung allein reicht leider nicht.
Es ist wie bei Mobbing in einer Schulklasse: Stellen Sie sich vor, wie ein Mädchen in einer Schulklasse beginnt, ein anderes Mädchen zu isolieren und zu terrorisieren. Es verbreitet falsche Dinge über die Mitschülerin und findet Anhänger, die ihr das Leben zur Hölle machen. Jetzt könnte man denken, es reicht, wenn die Lehrerin oder der Lehrer die Hauptdrahtzieherin maßregelt. Aber was passiert dann? Die Gemaßregelte wird in der Schulklasse gegen die „Petze“ hetzen und sich selbst als Opfer von Verleumdung darstellen. Anstelle mit dem eigentlichen Opfer solidarisiert sich die Klasse dann mit der von der Obrigkeit gemaßregelten Täterin.
Nein, es reicht leider nicht zu verurteilen oder zu maßregeln. Man muss mit der ganzen Klasse arbeiten. Die ganze Klasse muss sich mit der Gewalt auseinandersetzen: Täter, Mitläufer und die so genannte schweigende Mehrheit. Wenn man Mobbing mit der ganzen Gruppe thematisiert, wird meist schnell klar, dass die Gewalt, die hier ausgeübt wurde, gar nichts mit dem Mobbingopfer zu tun hat, sondern ihre Gründe ganz woanders liegen.
So ist es auch in der aktuellen Debatte um die AfD. Die Verschwörungserzählungen haben in der Regel wenig oder gar nichts mit den Sorgen der Menschen zu tun, die ihnen auf den Leim gehen.
Diese Sorgen sind in strukturschwachen Regionen durchaus gravierend: Fachkräftemangel in allen Bereichen, Niedergang der Infrastruktur, Abwanderung der Jugend und ähnliches hinterlassen die Zurückgebliebenen mit Recht ratlos und ohnmächtig. Hinzu kommt das böse Gefühl, Verlierer der Geschichte zu sein.
Es ist primäre Aufgabe der Politik, diese Probleme zu sehen und sie beherzt anzugehen.
Die Einschränkung der Rechte von Migranten ist hier allerdings der falsche Weg. Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit lösen kein einziges Problem von strukturschwachen Regionen. Im Gegenteil.
Abschiebungslager und Abbau des Rechtsstaates machen unser Land hässlicher, aber keineswegs sicherer.
Ich komme zu meinem dritten Punkt: Ich denke, wir haben Grund zur Zuversicht.
Im Unterschied zu Alois Grimm haben wir im Jahr 2024 in ganz Deutschland eine gewisse Erfahrung mit der Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie.
An vielen Beispielen in der Welt können wir überdies sehen, dass in Staaten, die von autoritär-nationalistischen Parteien regiert werden, kaum nachhaltige Problemlösungen gefunden werden.
Nationalismus und Verschwörungstheorien taugen nun einmal nicht zur Problemlösung. Sie stehen derselben allerdings oft genug im Weg.
Im März diesen Jahres hat der Direktor des Potsdam Instituts für Klimaforschung, Dr. Ottmar Edenhofer, in seiner Fastenpredigt bei uns in Sankt Michael, München, sehr anschaulich dargelegt, warum nur die internationale Zusammenarbeit und keineswegs ein nationalistisches Gegeneinander in der Lage ist, mit den Herausforderungen unserer Zeit fertig zu werden.[3]
In den parlamentarischen Demokratien, in denen alle Interessen vorgetragen werden können und hohe Rechtssicherheit herrscht, werden am ehesten politische Lösungen gefunden, die für alle akzeptabel sind. Diese Kompetenz durch Gewaltenteilung und politische Diskussionskultur kann uns zuversichtlich stimmen. Aber wir dürfen sie nicht verkommen lassen oder gar leichtfertig verspielen.
Ich komme zum Schluss:
Alois Grimm musste unter einer Deutschen Regierung leben, die sich als Retter und Erlöser des Deutschen Volkes inszenierte und sich dabei auch anmaßte genau definieren zu dürfen, wer als Deutscher leben darf und wer nicht.
Pater Grimm ließ sich von dieser Propaganda nicht blenden – auch nicht, als es um sein Leben ging.
Denn er hatte einen anderen Herrn und Erlöser, der ihn frei machte und unbestechlich.
Einen Herrn, der ihm half Gutes von Bösem, Wahres von Falschem zu unterscheiden.
Ein Herr, der ihn aufrichtete in aller Bedrängnis und Not.
Deshalb ist er auch für uns heute ein lichtvolles Vorbild.
In seinem Abschiedsbrief am Tag seiner Hinrichtung schrieb er:
„Ich gebe mein Leben für das Reich Gottes, das kein Ende kennt, für die Gesellschaft Jesu, für die Jugend, für die Religion unserer Heimat.“
Und der Brief endet:
„Auf Wiedersehn im Jenseits! Gelobt sei Jesus Christus!“
IN EWIGKEIT – AMEN!
Festpredigt gehalten am Sonntag, den 15. September 2024 in der Pfarrkirche Külsheim, dem Heimatort von Alois Grimm.
Ludger Joos SJ
Fussnoten
[1] Siehe die ausführliche Darstellung von Albrecht J. Schmitt, Von keiner Macht gezwungen. Lebensbild P. Alois Grimm SJ. BoD Norderstedt, 2024.
[2] Vgl. Pressemitteilung der DBK zum Beschluss der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 22. Februar 2024 https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2024/2024-023a-Anlage1-Pressebericht-Erklaerung-der-deutschen-Bischoefe.pdf (6.9.2024)
[3] Die Fastenpredigten 2024 können in der Mediathek der Michaelskirche nachgehört oder auch in einer gedruckten Broschüre nachgelesen werden vgl. https://www.st-michael-muenchen.de/gottesdienst/service/predigten-zum-nachhoeren/fastenpredigten ; Andreas R. Battlogg – Martin Stark (Hg) Mehr Weniger. Fastenpredigten 2024 in St. Michael. BoD Norderstedt 2024.